„ Ein Instrument zu spielen ist eine der komplexesten menschlichen
Tätigkeiten. Schon bei einfachsten Stücken werden Fähigkeiten des
Intellekts (Begreifen), der Grob- und Feinmotorik (Greifen), der
Emotion (Ergreifen) und der Sinne beansprucht. Die präzise
Koordination der Hände und Finger auf Saiten oder Tasten verlangt eine
ausgeprägte Feinmotorik und räumliches Vorstellungsvermögen. Vom
Blatt-Spielen erfordert die schnelle und gleichzeitige Verarbeitung
von Informationen in extremer Fülle und Dichte (Noten Takt, Tempo,
Lautstärke, usw.)… Dies bedeutet eine Aktivität unter den extremsten
Bedingungen der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen… und schafft
eine erzieherische Erfahrung von einzigartigem und daher
unverzichtbarem Wert.“
(Prof. Dr. Hans-Günther Bastian)
Dieses Zitat des Musikpädagogen Hans-Günther Bastian beschreibt auf
eindrückliche Weise, wie musikalisches Lernen – und insbesondere das
Erlernen eines Instruments – sehr komplexe Verknüpfungen von
Sinnesleistungen verlangt. Eine Fülle von Sinnesleistungen hat
wiederum vielfältige neuronale Verknüpfungen zur Folge. In diesem
Sinne kann musikalisches Lernen als eine optimale Förderung auditiver
und visueller Wahrnehmungsfähigkeiten verstanden werden.
Dieser Textbeitrag wird der Fragestellung nachgehen, warum gerade
musikalisches Lernen eine wertvolle Förderung hörgeschädigter Kinder
darstellt und einen Erklärungsversuch unternehmen, weshalb Musik
Auswirkungen auf das Sprachlernen hat. Es wird sich zeigen, dass die
grundlegenden Gegensatzpaare in der Musik (laut-leise,
schnell-langsam, hoch-tief, kurz-lang) auch in der Spracherkennung
eine wichtige Rolle spielen. Musik und Sprache werden nämlich im
Gehirn teils recht ähnlich verarbeitet.
„Die wesentliche Basis der Musik ist die Melodie ... “ (Hermann
von Helmholtz)
Was aber ist eine Melodie? Melodien sind Folgen von Tönen, die aus
der Unterteilung des Tonhöhenraumes in Intervalle (Tonleitern, Skalen)
und Zeitabschnitte (rhythmischer Puls, Metrum) hervorgehen.
Wenn wir die Melodie als Basis der Musik annehmen, stellt sich die
Frage, in wieweit hörgeschädigte Kinder zur Melodieerkennung, zur
Produktion und Reproduktion von Melodien fähig sind. Zur
Melodieerkennung sind grundsätzlich folgende Fähigkeiten notwendig:
das Erkennen unterschiedlicher Tondauern (lang-kurz), das Erkennen
unterschiedlicher Tonhöhen (hoch-tief), das Erkennen unterschiedlicher
Tempi (schnell-langsam) und das Erkennen unterschiedlicher Lautstärke
(laut-leise). Hörgeschädigte Kinder zeigen bei all diesen
Wahrnehmungsleistungen – ausgenommen das Unterscheidungsvermögen von
dicht beieinander liegenden Tönen - auch erstaunlich gute
Differenzierungsfähigkeiten. Jedoch vornehmlich, wenn sie an
Instrumenten selber spielen, und nicht bei reinen Höraufgaben. Dies
bedeutet, dass auch hörgeschädigte Kinder Melodien erkennen und am
Instrument reproduzieren können und dass dieses musikalische Potential
gefördert werden sollte!
Betrachten wir die unterschiedlichen Hörfelder von Musik und
Sprache, so ist auffällig, dass der Musikbereich das Sprachfeld
einschließt und ein größeres Wahrnehmungsspektrum beinhaltet:
Abbildung 1 zeigt eine Gegenüberstellung des musikalischen, sowie des
sprachlichen Verarbeitungsprozesses. Ausgehend von den kleinsten
Einzel-Wahrnehmungsleistungen bis hin zum komplexen Verständnis von
Sätzen und Melodien. Grundlegend sind die so genannten „Low-Level-Kompetenzen“,
die die automatische Extraktion basaler akustischer Merkmale wie Zeit-
und Frequenzauflösung garantieren:
Low-Level-Kompetenzen – auditive, motorische und visuelle – sind
Wahrnehmungskompetenzen, die als notwendige Voraussetzungen zur
Sprachentwicklung gelten. Low-Level-Kompetenzen lassen sich vor allem
durch musikalisches Lernen verbessern und nicht allein durch reines Hör-
oder Sprachtraining, denn um eine phonologische Bewusstheit zu
erreichen, muss natürlich eine niedrigere Ebene der Sprachverarbeitung,
nämlich das Erkennen nicht-sprachlicher Reize, korrekt funktionieren.
Abschließend möchte ich alle Eltern hörgeschädigter Kinder ermutigen,
ihren Kindern die Welt der Musik zu öffnen. Sei es durch einen Kurs in
musikalischer Früherziehung (je eher, desto besser!) oder durch die
Auswahl eines Instruments. Jenseits der Transfereffekte, die das
Musiklernen hervorbringt, stehen doch im Vordergrund die Freude an der
Musik und der Spaß, den die Kinder dabei haben werden auf spielerische
Art und Weise zu lernen! Und ich kann Ihnen versichern: Die
Erfolgserlebnisse werden gegenüber möglichen Misserfolgen überwiegen!
Ihre
Eva Mittmann
Literatur:
- Hans-Günther Bastian; Musik(-erziehung) und ihre Wirkung, Mainz
2000
- Fred Warnke/Hartwig Hanser; Nachhilfe ade? In: Gehirn & Geist
1/2004 (S.64-67)
- Wilfried Gruhn; Wie Kinder Musik lernen, in : Musik und Unterricht
31/1995
- Wilfried Gruhn; der Musikverstand, Hildesheim 1998
- Wilfried Gruhn/Eckart Altenmüller, Das Bild der Musik im Kopf, MPF
, Wißner 1995
- Eckart Altenmüller/Wilfried Gruhn/Dietrich Parlitz, Musiklernen.
Pädagogische Auswirkungen neurobiologischer Grundlagenforschung, in:
J.Scheidegger/H.Eiholzer, Persönlichkeitsentfaltung durch
Musikerziehung, Luzern 1997
- Wie funktioniert das Lernen? Neue Lernstrategien aus der
Hirnforschung, in: Der Spiegel 27/2002
- Shaywitz, S.E.: Legasthenie – gestörte Lautverarbeitung, in:
Spektrum der Wissenschaft 1/1997, S. 68-76
- Spitzer, M. : Musik im Kopf, Stuttgart 2002
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Kleine Lauscher
Hessische Elterninitiative zur lautsprachlichen Förderung
hörgeschädigter Kinder e. V.
www.kleine-lauscher.de
info@kleine-lauscher.de
30.05.2004
LP 1/2004
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