Ich bin von Geburt an gehörlos. Mit einem Jahr bekam
ich Hörgeräte. Mit den Hörgeräten konnte ich dann bei 85 dB hören. Ab
jetzt war es eigentlich nur noch wichtig, mir möglichst viel Gelegenheit
zu geben, Geräusche, Musik, Sprache, überhaupt alles zu hören. Meine
Mutter hat mit mir ganz gezielt hören gelernt. Auf jedes Geräusch hat
sie mich aufmerksam gemacht, alles was sie gemacht hat oder was wir
gesehen haben, hat sie mir mit Worten erklärt. Eine Logopädin und eine
Lehrerin der Frühförderstelle haben ebenfalls mit mir Hörtraining
gemacht. Außerdem ist meine Mutter in regelmäßigen Abständen mit nach
Friedberg in die Wechselgruppe gegangen. Dort haben dann Erzieherinnen
das Hörtraining übernommen.
Wenn man das jetzt hört und ließt, dann denkt jeder, mein ganzer Tag
hätte nur aus Hörtraining bestanden. Aber das „Hören lernen“ war immer
in den ganz normalen Tagesablauf eingebunden. Auch ein hörendes
Kleinkind macht man auf Geräusche in seiner Umgebung aufmerksam.
Durch das intensive Hörtraining waren meine Hörreste so gut trainiert,
dass ich nach ca. einem Jahr mit den Hörgeräten schon bei 70 dB hören
konnte. Durch das hören lernen, lernte ich auch sprechen.
Meine Sprachentwicklung war dann ganz normal, wie bei einem hörenden
Kind. Die Logopädin, die Lehrerin der Frühförderung und die
Wechselgruppe haben dann geschaut, ob sich mein Wortschatz vergrößert
und sich eine normale Sprache entwickelt.
Mit drei Jahren bin ich dann in den Regelkindergarten gegangen. Ich war
das einzige gehörlose Kind. Es gab keine Probleme. Ich konnte sagen,
wenn mir etwas gefiel und wann mir etwas nicht gefiel, wenn mich ein
Kind geärgert hatte oder wenn ich im Stuhlkreis etwas nicht verstanden
habe, dann hat ein Kind oder eine Erzieherin noch einmal wiederholt. Ich
verstand aber auch, wenn ich etwas falsch gemacht hatte und die
Erzieherin dann ein bisschen mit mir schimpfte und manchmal war es mir
auch zu laut.
Als ich 3 1/2 Jahre alt war, sind wir umgezogen und ich musste in einen
anderen Kindergarten gehen, ebenfalls ein Regelkindergarten. Ab dieser
Zeit besuchte ich auch eine Musikschule und es machte sehr viel Spaß.
Mit 6 Jahren kam ich in die Schule nach Friedberg. Hier war ich in einer
Klasse, in der das Hören und Sprechen gefördert wurde. Mit 10 Jahren hat
sich mein Gehör dann ständig verschlechtert und ich brauchte das
Absehbild immer öfter. Im Juli 1996 entschied ich mich für ein Cochlear
Implantat (CI). Im Dezember 1997 wurde ich implantiert. Nach der
Anpassung des Sprachprozessors musste ich wieder ein Hörtraining machen.
Diesmal ging es aber viel schneller.
Ich höre mit dem CI viel besser als mit den Hörgeräten und kann viele
Geräusche, die ich noch nie gehört habe jetzt hören, z. B. das
Zwitschern der Vögel; wenn das Wasser läuft; wenn die Autos
vorbeifahren; die Autos auf der Autobahn von weiterer Entfernung, all
das hörte ich mit den Hörgeräten nicht. Die Hörkurve mit dem CI liegt
jetzt bei 30 - 50 dB, also viel besser als mit den Hörgeräten. Jetzt
höre ich auch, wenn mich Kinder von weitem rufen. Ich bin jetzt auch
nicht mehr immer auf das Absehbild angewiesen, selbst telefonieren ist
für mich möglich. Mit dem CI verstehe ich die Liedertexte und kann auch
wieder besser Klavier spielen. Meine Aussprache ist auch besser,
deutlicher geworden. Ich kann viel leichter Gesprächen im Unterricht
oder außerhalb der Schule folgen.
Für mich ist die Lautsprache eine Sprache, die mich unabhängig macht.
Ich kann heute und in Zukunft alles alleine für mich erledigen. Ich bin
weder auf einen Gebärdendolmetscher noch auf die Hilfe anderer
angewiesen.
Auch das spontane Gespräch mit den Nachbarn und den hörenden Freundinnen
aus unserem Wohnort, mit den Großeltern und meinen Verwandten wäre ohne
Sprache unmöglich. Keiner in unserem Ort und keiner aus meiner
Verwandtschaft kann die Gebärdensprache. Meine Hände wüssten nach der
Schule oder in den Ferien nicht, mit wem sie reden sollten. Bei meinen
beiden Praktikumsstellen (in einem Regelkindergarten und bei einer DAK
Geschäftsstelle) habe ich gemerkt, wie wichtig es ist, sprechen zu
können. Schon bei der Bewerbung wurde gefragt, ob ich sprechen kann oder
nur Gebärden. Die Vorbehalte waren da schon recht groß.
Am Arbeitsplatz werde ich auch mit niemandem gebärden können, weil außer
gehörlosen Menschen keiner die Gebärdensprache spricht und versteht. Ich
verstehe die Gebärdensprache, weil ich anderen oft zugeschaut habe, aber
ich selbst möchte nicht nur gebärden. Ich möchte in erster Linie
sprechen. Wenn andere Gehörlose meine Sprache nicht verstehen, dann
gebärde ich.
Ich möchte meine komplette Sprache nicht zerstören. Wenn ich einen Satz
spreche, kann ich nicht dazu gebärden, weil die Gebärdensprache manchmal
anders ist.
Wenn man als kleines Kind die Gebärden lernt, dann merkt sich das Gehirn
ein anderes Muster der Kommunikation. Und die Gebärdensprache ist ganz
anders als die Lautsprache. Man kann dann in der Schule nicht einfach
sprechen lernen. Aber die Gebärdensprache kann man später auch noch
lernen. |
Kleine Lauscher
Hessische Elterninitiative zur lautsprachlichen Förderung
hörgeschädigter Kinder e. V.
www.kleine-lauscher.de
info@kleine-lauscher.de
30.05.2004
LP 1/2004
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